Re: Rückbau historisches Bahnsteigdach in Niedermendig
von Horst Heinrich » Mo 17. Aug 2020, 16:10
Die Diskussion im Nachbarforum zum Bahnsteigdach Niedermendig fand ich jetzt nicht sonderlich unqualifiziert entartet, es gibt "da drüben" schlimmere Exzesse, oft angestoßen oder moderatorenmäßig gerügt bzw. beendet von ferrosexuellen Spinnern, da gebe ich Dirk recht, von diesen großen Bubchen werden dann unliebsame Denkende gerne entsorgt, herausgemobbt.
Dirk, Deine Erfahrung mit dem Wartesaal ist sehr traurig, was würde ich drum geben, nochmal in einer solchen "Location" einzukehren, diese Räume hatten, nicht nur stilistisch, sondern auch olfaktorisch wahrnehmbar, immer einen besonderen Touch, den ich zum ersten Mal so richtig bei Alma Fries, der Bahnagentin in Hillesheim - Dorndürkheim (Strecke Gau-Odernheim - Osthofen) 1973 eingesaugt und seitdem gespeichert habe.
Es war die stimmungsvolle Reinkarnation des 19.Jahrhunderts, das Volk, das sich heute uns achtsamen Menschen ungefragt beimischt, unsere Atemluft stiehlt und nur aufs Zerstören aus ist, weil es selbst innerlich zerstört ist, kann solch eine Wahrnehmung gar nicht mehr entwickeln. Daher auch das achtlose Vergehen am Ofen, das sind doch Menschen, die man, so drückte es mal mein Opa aus, früher direkt zum Austoben an die nächste Front geschickt hätte, wo sich ihre Dummheit, zu überleben, bereits in der ersten Woche gezeigt hätte.
Zum Thema "erhaltenswürdige Bahngebäude". 90 Prozent aller Empfangsgebäude und ihrer Anlagen befinden sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr im Originalzustand. Den Anfang machten Umbauten im Rahmen erweiterter Anforderungen an die Leit- und Sicherheitstechnik. Zur Erhöhung der Streckenkapazitäten wurden Stellwerke an- und eingebaut, Überholgleise geschaffen, später gab es auf Putz verlegte Elektroleitungen und hierzu oft Verletzungen der Bausubstanz, selbst die an der Strecke verlegten isolatorgeführten Freileitungen oder einfach in die Landschaft gestellte Außenspannwerke haben sicher den ästhetisch empfindenden Menschen 1920 genauso gestört wie die Windräder den ästhetisch Wahrnehmenden heute.
Bahnsteigdächer waren früher ein Komfortmerkmal bedeutender Bahnhöfe, rein praktisch waren sie notwendig, weil die Textilien jener Zeit alles andere als robust waren. Wer auf dem Bahnsteig naß wurde, der wurde den ganzen Tag nicht mehr trocken. Eine Erkältung 1910 war schon fast ein halbes Todesurteil.
Andererseits, außer auf Kreuzungsbahnhöfen gab es auf der normalen Station für den Reisenden keine Wartezeit. Wenn wir früher zum Zug gingen, gingen wir so zeitig los, daß der Zug praktisch einfuhr, als wir am Bahnsteig standen. So hielt ich mich in den 1960er und 1970er Jahren in Wartesälen aus historischem Interesse auf, nicht weil es notwendig war.
Und Verspätungen waren sowieso die Ausnahme.
Warum also baute man im 19. und frühen 20. Jahrhundert so üppig und beeindruckend?
Die Bahn hatte im 19. Jahrhundert neben der Erschließungs- eine Repräsentationsfunktion. Hier vergegenwärtigte sich der mächtige "Vater Staat" voluminös selbst noch im kleinsten Dorf. In Grenzregionen gab es einen regelrechten "Bahnhofswettkampf", schön zu sehen z.B. in Rheinhessen, wo der hessen-darmstädter Großherzog den bayerischen Nachbarn Bahnhöfe -einer schöner als der andere- vor die Nase baute. Und die Bayern legten nach, stockten ihre Bahnhöfe auf, erweiterten sie, bauten Bahnsteigdächer, obwohl es ja reichte, bei Regen erst aus dem Wartesaal zu treten, wenn der Zug auf dem Gleis stand. Schon damals war jeder zweite Bahnhof überdimensioniert. Die Organisation des Betriebes und Verkehrs, der Habitus der Beamten, die Ausstattung, alles hatte militärische Vorlagen. Der Zug wurde als Gnadenmittel angesehen, in das man ehrfürchtig über mehrere Stufen aufsteigen mußte wie in eine Wallfahrtsstätte, die Bahnhöfe betrat man von der Straßenseite her immer über eine Treppe genau wie eine Kirche.
Als Mietobjekte eigneten sich die alten Bahnhöfe ab den 1960er Jahren auch nicht mehr. Wer wie ich 15 Jahre in einem Haus von 1914 mit 3,80m hohen Wänden gewohnt hat, weiß was es heißt, ein solches Gebäude warm und die 60cm dicken Wände trocken zu halten. Einzig Eisenbahner nutzten diese Wohnungen noch gerne, für sie galten ja ermäßigte Mietpreise.
Ich weiß daher nicht, ob alles, was heute noch so -unzählige Male verändert- in der Landschaft herumsteht, so historisch wertvoll ist, daß es erhalten werden muß.
Vielleicht wird man sich von dem einen oder anderen auch trennen müssen.
Die Gesellschaft im 21.Jahrhundert: Bei vielen nichts anderes als das Fortleben des prähistorischen Menschen unter der dünnen Schale der Zivilisation.