1963 Simmern-Gemünden




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1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Horst Heinrich » Mi 25. Mär 2020, 00:04

Mitten in der Fahrplanperiode, am 24. November 1963 wurde der Schienenpersonenverkehr zwischen Simmern und Gemünden eingestellt.

Die Strecke hat nur 41 Jahre überlebt, einst sollte sie bis Martinstein an die Nahebahn verlängert werden, aber 1963, als das Bild von der letzten Fahrt im VT 95 entstand, verraten die Gesichter der Beteiligten, darunter viele sich für wichtig haltenden, politischen Mandatsträger, deren Gräber inzwischen eingeebnet sind, daß ihnen diese Infrastruktur quasi egal ist.
Man hätte sich selbst ein Denkmal mit ihrem Erhalt setzen können, stattdessen sind vom VT, der Strecke und den Personen so gut wie nichts mehr übrig.

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Der geschmückte Innenraum, die ausgelassene Gesellschaft, das alles läßt auf Erleichterung schließen, daß die "antiquarische Bimmelbahn" bald verschwunden sein wird. Dabei hätte sie auch moderne Zeiten nicht gestört, es gab kaum höhengleiche Kreuzungen Straße/Bahn, stattdessen viele, kunstvoll gestaltete Bahnüberführungen.

Noch heute ist die Trasse ab der Gemarkungsgrenze Holzbach/Tiefenbach fast vollständig erhalten, die Strecke hatte eine unspektakuläre Führung, die auch höhere Geschwindigkeiten zugelassen hätte, die anliegenden Orte Gemünden-Mengerschied-Tiefenbach-Holzbach sind stark gewachsen und nach Simmern hin orientiert, der gesamte Schüler-, aber auch Berufstätigenverkehr würde eine im Stundentakt fahrende RB gut annehmen.

Im Simmerner Lokschuppen hätten sich Hobbyeisenbahner mit einem VT 95 / 98 oder gar einer kleineren Dampflok (BR 86 oder 93) beheimaten können für Sonderfahrten während der Ausflugssaison, auch das wäre ein gerne angenommenes Angebot geworden.

14 km Strecke ohne marode Kunstbauten oder Oberbauproblematiken, die kann auch ein Verein unterhalten.

Na ja, ein wenig phantasievolle, aber realistische Reminiszenz mag auch hier mal erlaubt sein.

Die beiden nachfolgenden Bilder vom Abbau 1965 stammen von Karl Brandenburger, Jahrgang 1935, er war 1965 Mitarbeiter der Bm Simmern.

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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Horst Heinrich » So 19. Feb 2023, 20:28

Schon beim Bau der Strecke Langenlonsheim-Simmern ab 1880 erbaten regionale Unternehmen der Holz-, Schiefer- und Tonindustrie einen Anschluß des Raumes um Gemünden an das Eisenbahnnetz. Nicht so sehr der Personenverkehr, denn der Güterverkehr stand im Mittelpunkt der Überlegungen.

Erst 1912 wurde im Berliner Verkehrsministerium das Vorhaben genehmigt, 1917 wurden die Bauarbeiten kriegsbedingt unterbrochen ud 1921/22 fortgesetzt.

Im Juni 1922 wurde die Strecke eröffnet.

Schon in den 1930er Jahren nahm die Bedeutung der Bahn für den Personen-, aber auch den Güterverkehr weiter ab, Postbus und Lkw begannen ihren Siegesszug.

Nach dem Krieg setzte sich der Trend fort, 1959 wurde der Güterverkehr aufgegeben, 1963 der Personenverkehr eingestellt.

Die Dienstgebäude waren in einem streng funktionalen Stil gehalten in Anlehnung an die Bauhaus-Architektur, es gab keine "wilhelminischen" Repräsentationsbauten. Dennoch sparte man nicht an handwerklicher Präzision.
Das folgende Bild zeigt das Viadukt bei Mengerschied.
So stabil und gleichzeitig ansehnlich wird heute nicht mehr gebaut, in jeder Fuge hat sich gewissermaßen der unbekannte Maurer verewigt, der bei mageren Stundenlöhnen hier höchste Quallität abgeliefert hat, wie auch der Schmied, dessen Geländer ihn lange überdauert und bis heute jeder meteorologischen Unbill getrotzt hat.

Daran muß ich immer denken, wenn ich solche Monumente sehe, wobei nicht viele Menschen hier ein Monument sehen, vielleicht nur eine unbedeutende Brücke, die abgerissen gehört, weil sie die 10-Tonnen-Monsterschlepper der EU-geförderten Landwirtschaft behindert...

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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Grauwacke » Mo 20. Feb 2023, 14:35

Hallo Horst,

habe Dank für das Bild der Eisenbahnbrücke bei Mengerschied. In Staunen versetzt hat mich allerdings, dass diese Brücke nach dem Baubeginn ab 1912 noch in dieser Steinkonstruktion ausgeführt wurde. Im Westerwald wurde eine Verbindungsbahn von Erbach/Ww. nach Fehl-Ritzhausen seinerzeit in zwei Abschnitten errichtet und eröffnet. 1908 das Teilstück Fehl-Ritzhausen - Marienberg-Langenbach und 1912 das Teilstück Marienberg-Langenbach - Erbach/Ww. Während auf dem ersten Teilstück alle Brücken und Durchlässe noch in Steinbauweise errichtet wurden, fand in der Zeit nach 1908 offenbar ein Wandel in der Ingenieurskunst statt, so dass die Brücken und Durchlässe, inklusive des großen Nistertalviaduktes, auf dem zweiten Teilstück in Stampfbeton-Bauweise errichtet wurden. Eine architektonisch hochinteressante Bahnstrecke. Folgt man dieser Logik, so hätten alle Brücken der Strecke Simmern - Gemünden eigentlich auch bereits in Betonbauweise errichtet werden können/müssen. Gibt es ggf. eine Erklärung dafür, warum dies im Hunsrück nicht geschah?

Viele Grüße, Dirk
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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Horst Heinrich » Mo 20. Feb 2023, 20:24

Grauwacke hat geschrieben:Gibt es ggf. eine Erklärung dafür, warum dies im Hunsrück nicht geschah?

Viele Grüße, Dirk

Die Vergabepraxis der großen Staatsunternehmen in der Zeit ab 1910 und erst recht nach dem Krieg war nicht einheitlich. Zwar bemühte man sich ab 1871 um Vereinheitlichung in vielen Bereichen (Stellwerk Einheit), dennoch hatten sich bei den Bahnen immer noch regionale Präferenzen erhalten.
Zudem war es "Programm", gerade in den wirtschaftlich schwachen Zeiten nach 1918 regionale Unternehmen einzubinden, eine Art Wirtschafts- und Arbeitsplatzförderung in strukturschwachen Regionen.
Generalunternehmer der Strecke war die Bernhard Liebold AG aus Holzminden, wobei Bernhard Liebold in Lüchtringen ein "Maurerdorf" betrieb, wo alte Handwerkstugenden wie das Behauen von Steinen gepflegt wurden. Liebold machte die Bopparder Firme Genius zum Subunternehmer, ein ausgewiesen traditionell arbeitender Betrieb. Auch die Mengerschieder Brücke wie auch weitere Viadukte und der Bahnhof Gemünden sind aus behauenem Sandstein gefertigt. Hierbei passen die rechtwinkligen Steine gut zu der Architektur im Bauhaus-Stil: Schlichtheit und Funktionalität waren die Prämissen, nicht der Historismus vergangener Jahre.
Auch die eingesetzten Gastarbeiter, etwa aus Italien, zeigten in der Fremde ihr Können. Ihr Werk und die Anerkennung der Betrachter machten sie fern der Heimat stolz.
Auch unter erschwerten Bedingungen sein Bestes zu geben, war eine Selbstverständlichkeit, in der heutigen Arbeitswelt wo man fleißig fast nur fordert, klagt und burn-outet kaum zu glauben.
Das Gesamtkunstwerk einer solchen Strecke wird heute weder ästhetisch noch funktional noch von ihrem historischen oder gesamtökonomischen Wert her betrachtet, die Betriebswirte in ihrer Froschperspektive rechnen jeden Stein auf Bauschutt-Niveau herunter und...lassen ihn schreddern.
1922 dachte man anders. Man schaffte für die Ewigkeit, nicht darauf hin, daß es in ein paar Jahren wieder Reparaturaufträge gibt.

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Das zweite Mengerschieder Viadukt 1920

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Bahnhof Gemünden

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Stolz auf den Arbeitgeber Bahn und Stolz auf die geleistete Arbeit zum Wohle des Volkes sprechen aus diesen Gesichtern.
(Rotte im Hunsrück um 1910).

Ein entschiedener Förderer des Bahnbaus im Hunsrück darf in dieser Betrachtung nicht fehlen.
Pfarrer Albert Hackenberg, später auch preußischer Abgeordneter des Reichstages, der über Bad Kreuznach, Berlin, Erlangen und Bonn, allesamt prosperierende Städte im aufblühenden Imperialismus in den Hunsrück kam, war schockiert von der kargen Armut von Land und Leuten. Die Erschließung der Region durch Bahn, Post, Fernsprecher, aber auch mit Bildungsstätten war ihm ein lebenslanges Anliegen.

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Bis in die 1950er Jahre ein sehr geschätzter Anschluß an die große Weite Welt:
VT 95 in Mengerschied auf dem Weg nach Gemünden

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Man kann die die nationalsozialistische Gruppierung Kraft durch Freude (KdF) heute -wie alles "damals"- politisch korrekt nach heutigen oberflächlichen und ahnungslosen Maßstäben kaputtreden, man kann aber auch sehen, daß durch KdF-Aktivitäten Millionen Deutsche einmal in den Genuß von Urlaub und Erholung in gesunden Regionen kamen, wo sie mit eigenen Mitteln nie hingekommen wären.
Zudem betrug bis in die 1920er Jahre der bezahlte Jahresurlaub nur durchschnittlich 10 Tage. ohne eine gute Organisation hätte hier niemand eine wirklich erholsame Reise realisieren können.

Das Bild eines KdF-Zuges im Endbahnhof Gemünden 1936 zeigt Urlauber, die sich gleich rund um Gemünden niederlassen werden.
Und manch einem Pseudo-Krupp-geplagten Ruhrpott-Kind standen die Tränen in den Augen, was mir ältere Gemündener berichteten.
"Mama, Papa, was ist es hier so schön."
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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Dieselpower » Di 21. Feb 2023, 11:34

Hallo Horst

Vielen Dank für diesen Bericht.
Unglaublich aus heutiger Sicht, daß man lieber etwas teurer und besser geschafft hat, als den Schrott nach kurzer Zeit einer anderen Kostenstelle aufs Auge zu drücken. Auch der KdF-Sonderzug und seine Geschichte haben mich schwer beeindruckt. Mein Vater dürfte ein paar Jahre später aus einem ähnlichen Zug - allerdings der Kinderlandverschickung - aus dem gefährdeten Köln in Gemünden ausgestiegen sein, er hat oft von seiner Hunsrück-Zeit erzählt, und sogar den Dialekt wunderbar drauf gehabt....Die eindrucksvolle Bergfahrt aus dem Rheintal war ihm bis zum Schluß im Gedächtnis geblieben....
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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Grauwacke » Di 21. Feb 2023, 19:59

Hallo Horst,

auch von mir ein dickes Dankeschön für Deine Ausführungen, die mich sehr beindruckt haben. Das mit der Kinderlandverschickung kenne ich aus den Erzählungen meiner Mutter (Jahrgang 1930). Auch sie litt Anfang der 1940iger Jahre an Asthma, wurde allerdings mit KdF nach Breklum an die Nordsee "verschickt". Sie erzählte auch im hohen Alter noch begeistert von diesem Erlebnis, mit dem sie als Kind aus einer armen Bauernfamilie aus Altwied niemals gerechnet hätte.

Nun noch einmal zur Haltbarkeit der alten Bahnbrücken: Da der Beton der guten alten Zeit noch nicht sparsam angerührt wurde, kann man die Haltbarkeit durchaus mit den Bauwerken vergleichen, die Stein auf Stein errichtet wurden. Die Nistertalbrücke steht wie eh und je und sie wird es in 100 Jahren noch. Auch der Bunkerbeton des zweiten Weltkrieges ist heute noch nahezu unzerstörbar. Ein alter Bekannter von mir ist Baggerfahrer bei einer mittelhessischen Abbruchfirma. Er sollte in der Gegend um Stadtallendorf einen alten Hochbunker der Nazis mit einem Großbagger und einem Meisel zerkleinern. Nachdem etliche Meisel nur bei dem Versuch zerstört wurden und der Bunker nicht einmal geringe Spuren der Meisel aufwies, entschloss man sich zu einer Sprengung. Der gesamte Bunker wurde abgedichtet und mit Gas geflutet. Nach der Zündung hob der Bunker sich um wenige Millimeter an, so als würde man auf einem Stuhl sitzend furzen und dazu kurz seitlich den Hintern etwas anheben. Anschließend stand der Bunker, felsenfest, wie eh und je. Schließlich machte man aus der Not eine Tugend und nutzte den Bunker kurzerhand als solides Fundament für ein Gebäude, welches man darauf errichtete.

Viele Grüße, Dirk
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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Horst Heinrich » Di 21. Feb 2023, 21:17

Hallo Freunde,
schön, daß meine leicht ausgeuferten Gedankengänge Anklang finden, aber bei der Betrachtung dessen, was früher mit Engagement, Liebe zu Beruf und Qualität gerade im Bahnbereich geschaffen wurde, ergibt oft "eins das andere", da muß ich dann immer dranbleiben.

So wie bei der Recherche zu Eisenbeton, wo einem natürlich zuvorderst die Namen Joseph Monier und Conrad Freytag (Wayss und Freytag) begegnen und etwas, das man damals unter der Bezeichnung "Baukunst" subsummierte, woraus dann auch der Baumeister entstand, eine Fachqualifikation, von der heutige Bauingenieure und Architekten meist nur träumen dürfen.

Noch heute stehe ich immer wieder mit großen Kinderaugen vor dem berühmten Hoxeler Viadukt bei mir in der Nachbarschaft, das selbst nach einem markerschütternden Bombenangriff 1945 nur vier Jahre später schon wieder 500-Tonnen-Züge trug.

Selbst das Geländer eines seit 50 Jahren nicht mehr befahrenen Eisenbahnviadukts phasziniert mich, es steht stolz und fest in den Kapriolen der Jahreszeiten und ehrt bis heute seinen Schmied, der er herstellte. Heute gibt es nicht mehr viele, die so etwas Bleibendes schaffen.
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Re: 1963 Simmern-Gemünden

Beitragvon Rolf » Di 21. Feb 2023, 21:59

Interessante Geschichte. Vielen Dank dafür!
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