Bahnschwellen aus Bingen: Die Firma Richtberg




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Bahnschwellen aus Bingen: Die Firma Richtberg

Beitragvon Horst Heinrich » Do 28. Mai 2020, 11:02

Im Jahre 1850 gründete Joseph Himmelsbach sein erstes Bahnschwellenwerk in Neuenburg.

Später kamen Werke in Speyer, Freiburg und 1897 in Gaulsheim bei Bingen dazu.
In dieser Zeit gab es zwei Verfahren, das Holz zu schützen, die Kyanisierung, also das Eintauchen der Schwellen in ein Quecksilbersublimat (benannt nach dem englischen Erfinder John Kyan) und die Teerölimprägnierung durch Eintauchen, ein Verfahren, das der Bremer Schiffbaumeister Wendt 1825 erstmals angewendet hat.

Himmelsbach führte in seinen Werken beide Verfahren durch, zunächst war die Kyanisierung erfolgreicher, da das Quecksilber die Pilze im Holz langfristig abtötete, aber nur oberflächlich, dieses Verfahren hatte keine große Eindringtiefe.

1838 entwickelten Bethell und Burnett ein Kesseldruckimprägnierverfahren, das sich für Bahnschwellen durchsetzte.
Himmelsbach wählte den Standort Gaulsheim mit Bedacht aus: Er lag an den Hauptbahnen Mainz-Koblenz und Bingen-Alzey-Worms und die nahen Wälder von Hunsrück, Pfälzer Bergland und Taunus standen als Bezugsquelle für Buchenholz zur Verfügung.

Das Werk Gaulsheim nahm einen raschen Aufschwung, 1920 beauftragte Himmelsbach den bekannten Freiburger Architekten Karl Caesar mit dem Bau einer Arbeitersiedlung in Form eines Polygons. Dieses sehenswerte Gebäude in Bingen-Kempten steht unter Denkmalschutz und ist heute top restauriert.
https://www.homify.de/projekte/469496/s ... chsiedlung

Das Ende der Firma Himmelsbach war spektakulär und rückte das Werk Gaulsheim sogar in den Mittelpunkt des politischen Geschehens in Deutschland.

Weil das ganze auch eisenbahnhistorisch interessant ist, gebe ich hier einen Aufsatz von
Renate Liessem-Breinlinger wieder:

Als die Firma Gebrüder Himmelsbach 1921 ihr 75jähriges Bestehen feierte, dokumentierte der Hauschronist neben einer großen Vergangenheit gute Zukunftsaussichten. Wenige Jahre später brach das Unternehmen jedoch unter spektakulären Umständen zusammen. Der Grund war die Mitwirkung der Firma an der Erfüllung der Reparationsforderungen der Siegermächte, insbesondere die Beteiligung an den Verträgen über die „coupes supplémentaires“ im Februar 1924. Es ging dabei um zusätzliche Holzlieferungen für die französischen Kriegsgeschädigten. Die „coupes supplémentaires“-Verträge betrafen die besetzten linksrheinischen Teile Bayerns (Pfalz), Hessens und Preußens (Rheinland). Die Problematik bestand darin, daß die Besatzungsmacht als Souverän über Staatswald verfügte. Die beteiligten Holzunternehmen verpflichteten sich zu Lieferungen an Frankreich und wurden entschädigt durch Überlassung von Schlägen im Staatswald. Die Firmen sahen sich der Drohung ausgesetzt, daß im Weigerungsfalle ihre Werke beschlagnahmt würden. Die führende Persönlichkeit beim Vertragsabschluß war Hermann Himmelsbach, den die Holzindustriellen des besetzten Gebietes kurz zuvor zum Vorsitzenden einer Reparationsholz-Treuhandgesellschaft bestimmt hatten. Die betroffenen Länderregierungen erfuhren nachträglich von der Existenz der Verträge, als Himmelsbach sie zur Mitwirkung an der Vertragserfüllung – finanziell oder durch Holzlieferungen aus dem unbesetzten Gebiet – gewinnen wollte, um Kahlhiebe in den Staatswäldern zu vermeiden. Diese Mitwirkung wurde jedoch nicht gewährt. Im April 1924 ging die Firma Gebrüder Himmelsbach dazu über, einen Teil der ihr zugewiesenen Schläge abzuholzen.
In einer Anfrage des deutsch-völkischen Blocks des bayrischen Landtags manifestierte sich Protest; dann führte der Redakteur der Zeitschrift „Holzmarkt“ Otto Fernbach eine aufsehenerregende Pressekampagne mit massiven Angriffen, die er auf die Firma Gebrüder Himmelsbach und die Person des Hermann Himmelsbach konzentrierte. Er ergriff die Gelegenheit, mit dem Mann abzurechnen, der Deutschland 1919 bei den Reparationsverhandlungen in Versailles, Spa und Paris vertreten hatte und der ein guter persönlicher Freund des „Erfüllungspolitikers“ Dr. Josef Wirth, des Reichskanzlers von 1921/22, war. Als Himmelsbach im Oktober 1924 die Klageschrift gegen Fernbach wegen Beleidigung und Geschäftsschädigung drucken ließ, war er noch optimistisch. Mittlerweile ging aber die Saat der Diffamierungen auf. Fernbach und der bayrische Forstwissenschaftler und Schriftleiter des „Holzhandelsblatts“ Professor Endres forderten die deutschen Regierungen zu Boykottmaßnahmen gegen Gebrüder Himmelsbach auf und bezichtigten diese des Landesverrats.
Tatsächlich verweigerten die Forstverwaltungen der Länder der Firma den Zuschlag beim Holzkauf, ohne jedoch dies als Boykott zu deklarieren und Absprachen untereinander zuzugeben. Reichsbahn und -post, die Hauptabnehmer der Schwellen und Masten, erteilten keine Aufträge mehr. Die Firma kämpfte ums Überleben. Neben Hermann Himmelsbach engagierten sich dessen Sohn Dr. H. Himmelsbach in Köln, Oskar Himmelsbach, der Direktor des Werkes Walhallastraße bei Regensburg, und dessen Vater Georg als der Vorsitzende des Aufsichtsrats (Josef Himmelsbach, Sohn des Benjamin Himmelsbach und Direktor des Werkes Gaulsheim bei Bingen, war 1923 vier Wochen von den Alliierten inhaftiert, da er sich während des passiven Widerstandes geweigert hatte, die belgische Besatzungsmacht zu beliefern.) Dramatische Szenen spielten sich beispielsweise beim Eisenbahnzentralamt in Berlin ab, wo die Herren Himmelsbach statt mit der gewohnten Ehrerbietung nun abweisend behandelt wurden. Die Überzeugung, einem Unrecht zum Opfer gefallen zu sein, führte zu einer Reaktion, wie sie aus Kleists „Michael Kohlhaas“ oder von August Sutter, dem „Kaiser von Californien“, bekannt ist. 1926 klagte Gebrüder Himmelsbach AG gegen das Deutsche Reich, die Reichspost und die Länder Preußen, Hessen und Bayern auf Schadensersatz und Unterlassung jeglicher Benachteiligung. 1934 wurde die Klage durch das Reichsgericht abgewiesen. Als Himmelsbach 1944 starb, war von dem Vermögen der Glanzzeit nur noch Unbedeutendes übrig. Einem Rat des mit ihm verschwägerten Bankiers Josef Abs folgend, hatte er die Aktienmehrheit gehalten. Hätte er gleich 1924 oder 1925 nach dem Freispruch Fernbachs die Firma stillgelegt, hätte er einen Teil des Vermögens retten können. Dies unterblieb in dem Glauben, daß ein bodenständiges altes Unternehmen „sich in Deutschland gegen offenbares Unrecht würde durchsetzen können“.


Nach der Himmelsbach-Insolvenz ging das Unternehmen 1937 auf die Karl Richtberg Gmbh&Co KG über. Richtberg besaß bereits mehrere Bahnschwellen- und Imprägnierwerke im Südwesten , u.a. die beiden Werke in Thalfang und Reinsfeld im Hunsrück, die von der Familie Hammerstein erworben wurden (siehe hierzu die Darstellung hier im Forum).

Bis 1989 wurde in Gaulsheim gesägt und imprägniert, bis dahin wurde der Schutz von Mensch und Natur sträflichst vernachlässigt. Als ich 1988 nach Gaulsheim zog, waren allein in unserem Dorf etwa 20 Arbeiter von Richtberg zwischen 50 und 60 Jahren an Blasenkrebs erkrankt. Keiner von ihnen erlebte das 65.Lebensjahr. Gärten und Hausbrunnen waren hoffnungslos mit Teeröl und Quecksilber verseucht.

Noch 1988 warteten frisch aus dem Tauchbad gezogene Schwellen und Telegrafenstangen tagelang auf dem rund 800 Meter langen "Abtropfgleis" (es war ein Parallelgleis zum Hauptgleis Bingen-Mainz), bereits auf Güterwagen verladen, auf Abholung durch die DB.

Der Binger Wagenmeister weigerte sich, die Schwellen abholen zu lassen, solange sie noch naß waren.

Inzwischen war klar, daß Richtberg den Standort aufgibt.
Der damalige Binger Oberbürgermeister Erich Naujack, der mit Karl Alexander Richtberg befreundet war, wollte die Liegenschaft ohne großes öffentliches Aufsehen und mit Einschüchterung kritischer Stimmen im Stadtrat an die Mainzer Firma Schott zur Ansiedlung der Ceranfeldfertigung "versilbern". Hierzu kaufte er für 9 Millionen DM Richtberg die gesamte Liegenschaft ab und verkaufte sie für 11 Millionen an Schott weiter.
Weder funktionierten hier parlamentarische noch mediale Kontrolle, der Stadtrat war seinem OB hörig und auch mit dem Redaktionsleiter der Allgemeinen Zeitung Bingen war der Oberbürgermeister befreundet.
Er dachte, mit zwei Millionen seien Abriß und Altlastensanierung erledigt.

Allerdings beharrte Schott auf völlige altlastenfreie Übergabe, was ein Desaster ingang setzte.
Die Beseitigung der bis zum Grundwasser reichenden Erdreichverseuchung mit gesundheitsschädlichen PAK (Polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstoffen) wäre mit einem hohen dreistelligen Millionenbetrag zu Buche geschlagen und hätte die Stadt Bingen als Grundstückseigentümer ruiniert.
Die Schott-Ansiedlung platzte, die Fläche wurde grob saniert, der teerölverseuchte Boden bis zu einer Tiefe von vier Metern ausgetauscht, die quecksilberverseuchten Flächen wurden lediglich abgedichtet.

Auf einigen weniger belasteten Flächen haben sich ein paar Firmen angesiedelt, die Gebäude dürfen aber keinen Keller haben.
Auf dem Gaulsheimer Friedhof ruhen die Opfer des Richtberg-Skandals, Männer, wie etwa mein Schwiegervater, der 1993 mit 57 Jahren verstorben ist und andere, die allesamt das Rentenalter nicht erreicht haben.
Die Gesellschaft im 21.Jahrhundert: Bei vielen nichts anderes als das Fortleben des prähistorischen Menschen unter der dünnen Schale der Zivilisation.
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Horst Heinrich
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