Die Bahnverbindung über den Rhein bei Bingen 1901




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Die Bahnverbindung über den Rhein bei Bingen 1901

Beitragvon Horst Heinrich » Sa 18. Jan 2020, 22:36

Im Berliner Architekturmuseum sind die Pläne von Erich Giese aus dem Jahre 1901 archiviert, die eine Verbindung zwischen linker und rechter Rheinstrecke einschließlich dem Neubau eines großen Bahnhofs bei Bingen-Dietersheim vorsahen.

https://architekturmuseum.ub.tu-berlin. ... 1&O=161582

Teile dieser Planungen wurden später im Rahmen des Baus der Hindenburgbrücke realisiert, das ganz große Projekt wurde allerdings nicht in die Tat umgesetzt.

Ich möchte meinen Erläuterungen hierzu die Originalplanungen vorausschicken.

Und macht euch mal die Mühe, die Pläne im Detail anzusehen, etwa die Gleisplanungen, all die ausgeklügelten Überlegungen zu allen möglichen Betriebs- und Verkehrserfordernissen oder die Hochbauten oder Entwürfe zu Empfangsgebäuden.

Einfach nur phaszinierend.
Zuletzt geändert von Horst Heinrich am Do 30. Jan 2020, 13:07, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Die Bahnverbindung über den Rhein bei Bingen 1901

Beitragvon Horst Heinrich » Di 28. Jan 2020, 13:27

Die Entstehung der Hindenburgbrücke

Vorgeschichte
Die Rheinquerung der Bahn bei Bingen steht in engem Zusammenhang mit der Annäherung Frankreichs und Rußland ab etwa 1890.
Wilhelm II hatte gerade Bismarck entlassen, der noch einen friedenserhaltenden Kurs mit den europäischen Großmächten verfolgt hatte.

Rußland sicherte sich danach aus Furcht vor einem zu mächtigen Deutschland mit einem stillen Bündnis mit Frankreich ab, das aber nicht lange geheim blieb.

Daraufhin überlegte der deutsche Generalstab, wie man im Falle eines Krieges zügig nach Frankreich vordringen könnte.

Heraus kamen Strategien, die später unter der Bezeichnung "Schlieffen-Plan" in die Geschichtsbücher eingehen sollten.
Der Schlieffen-Plan sah eine schnelle Verlegung großer Truppenverbände an die Westfront mithilfe der Eisenbahn vor.

Hierzu gab es zahlreiche Streckenaus- und neubauten, die charakterisiert waren durch eine möglichst gerade Streckenführung, geringe Kurvenradien und -was wichtig war- Zweigleisigkeit.
Außerdem wurde die Leit- und Signaltechnik optimiert, zumeist durch den Bau mechanischer Stellwerke und den Ausbau der Streckenfernsprechtechnik.

Im Zusammenhang mit diesem Streckenausbau wurden zwei neue Rheinbrücken geplant, die eine im Binger, die andere im Remagener Raum.

Sicher auch, um militärische Präferenzen nicht allzu stark durchschimmern zu lassen, stellte man die Binger Planungen unter das Dach des alljährlichen, renommierten Berliner Architekturwettbewerbs, benannt nach dem preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel.

1901 legte dann der erst 27-jährige Architekt Erich Giese eine gigantischen Entwurf für eine Rheinquerung bei Bingen und den Neubau eines großen Personen- und Güterbahnhofs vor, der eine ganz klare militärische Handschrift trägt und auf die Abfertigung eines gewaltigen Zugaufkommens gerichtet war.
Das zivile Güter- und Personenaufkommen jener Zeit rund um Bingen hätte diesen Bahnhof bei weitem nicht ausgelastet.
Erich Giese macht später -nebenbei bemerkt- Karriere im Bahnbaubereich.

Für den Brückenbau waren drei Alternativvarianten angedacht:

1. Eine "Stadtlinie" an der Nahe
2. eine "Stadtlinie" durch den Rochusberg (mit Tunnel)
3. eine tunnelfreie "Stadtrandlinie" östlich des Stadtzentrums.
(Anmerkung: Variante 3 wurde dann 1913-1915 tatsächlich realisiert).

Man muß dabei bedenken, daß Bingen damals im Großherzogtum Hessen-Darmstadt lag, gegenüber dem in Preußen gelegenen Rüdesheim.
Das deutsche Kaiserreich war stark von Preußen dominiert, die preußischen Großmachtbestrebungen sah man in den übrigen deutschen Ländern nicht unkritisch.
Der hessische Großherzog Ernst-Ludwig beispielsweise war kein Freund der Aufrüstung.
Er sah seine Aufgaben eher darin, Wohlstand, Bildung, Gesundheitsfürsorge zu mehren und den Ausbau eines regionalen Eisenbahnnetzes zu fördern.
Die feinmaschige Bahnerschließung Rheinhessens etwa hat hier ihren Ursprung.

Auch der Binger Stadtrat sah das Brückenprojekt skeptisch, er sah dadurch etwa Potentiale der Stadtentwicklung gefährdet.
Und rund 30 Jahre nach dem deutsch-französischen Krieg hatte man auch kein Interesse mehr an einem neuen Krieg.

Im preußischen Rüdesheim gab es ebenfalls eine große Opposition gegen eine Rheinbrücke.
Hier war neben der Beeinträchtigung von Stadtbild und Tourismus die Zerschneidung der weltbekannten Weinlagen rund um den Rüdesheimer Rottland durch die geplanten Kunstbauten gewichtiges Gegenargument, insbesondere bei den Varianten 1 und 2.

Die beiden Varianten 1 und 2 (siehe erstes Bild auf dem Museumslink) hätten stark in das Binger und Rüdesheimer Stadtbild eingegriffen, zudem war das Rheinufer schon damals eng bebaut, auch eisenbahntechnisch.
Von dieser Trassenführung ist man daher recht früh abgekommen.
Sie wäre durch etliche Kunstbauten aus Stahl, Stein und dem sich langsam entwickelnden Beton als Baustoff sehr kostspielig geworden.

Die Variante 2 hätte einen Tunnel durch den Rochusberg nötig gemacht.
Der Rochusberg mit seiner schon von Goethe beschriebenen Wallfahrtsstätte ist so etwas wie der heilige Berg der Binger.
Ein Sturm der Entrüstung gegen dieses Eisenbahnprojekt war in der überwiegend katholischen Bevölkerung Bingens vorprogrammiert.

Schon recht früh legte man daher den Fokus auf die Variante 3.

Der Neubau eines Personen- und Güterbahnhofes zwischen Dietersheim und Grolsheim

Unweit der Nahe, auf der Südseite des Rochusberges war ein gigantischer Bahnhof geplant, an dem sämtliche Strecken der Region zusammenlaufen sollten.
Das waren
1. die Rhein-Nahe-Bahn aus Kaiserslautern und Saarbrücken,
2. die Hunsrückbahn aus Simmern,
3. die linke Rheinstrecke
4. die rechte Rheinstrecke
5. die "Ludwigsbahn" Bingen-Alzey-Worms.
Wo es noch keine Verbindungen zwischen diesen Strecken gab, sollten sie errichtet werden.

Dieser neue Binger Bahnhof wäre von seinen Dimensionen her mit dem Mainzer Hbf vergleichbar gewesen.
Wie gesagt, weder das Personen- noch das Güteraufkommen jener Zeit hätte ihn gerechtfertigt, es war ein Bahnhof mit militärischer Präferenz, auch von seiner betrieblichen und bautechnischen Struktur her.

Sämtliche Strecken und Fahrstraßen sollten mechanisch abgesichert sein.
Die entsprechende Technik war inzwischen ausgereift, man bewegte sich auf die Vereinheitlichung der mechanischen Stellwerkstechnik zu, so war etwa in Armsheim (Strecke Bingen-Alzey-Worms) seit 1899 ein Stellwerk der Firma Stahmer in Betrieb, mit dem man über drei Stellwerksgebäude bereits ein Dutzend Gleise und vier Strecken betreiben konnte.
Das neue Binger Stellwerk wäre mit Sicherheit mit einer solchen Technik ausgestattet worden.

Für den Bahnhof waren mehr als 50, teils sehr lange Gleise und sechs Stellwerksbezirke vorgesehen, daneben war die Angliederung verschiedener technischer Meistereien (Bahn-, Nachrichten-, Hochbaumeisterei) geplant, selbstverständlich auch der Bau eines repräsentativen Empfangsgebäudes nebst einem Orts- und Ferngüterbahnhof.

Interessant ist dabei, daß die 1902 eröffnete Verbindung Gau-Algesheim - Bad Kreuznach erst gar nicht vorgesehen war, denn die Verbindung ab linker Rheinstrecke sollte von Bingen-Gaulsheim aus über den neuen Bahnhof Bingen nach Bad Kreuznach verlaufen.
Gebaut wurde dann aber doch ein zweigleisiger Abschnitt von Gau Algesheim über Ockenheim an den Bahnhof Büdesheim-Dromersheim der Strecke Bingen-Alzey-Worms.
Diese Strecke war bereits 1870 eröffnet worden und gehörte zum regionalen Erschließungsprogramm des hessischen Großerherzogs.
Kein Dorf in Rheinhessen sollte es weiter als eine Stunde Fußmarsch zum nächsten Bahnhof haben.
Dieses Denken -wohlwollend auf die Bedürfnisse des Volkes zugeschnitten- kennzeichnete den Bahnbau der hessischen Monarchen.
Der preußische Bahnbau -wuchtig und imperialistisch- gehorchte vorwiegend militärischen Belangen.

Die Karte der rheinhessischen Strecken von 1918 zeigt die engmaschige Erschließung der Region.

Bild

Von Büdesheim-Dromersheim ging es dann dreigleisig weiter bis Gensingen-Horrweiler.
Diese beiden Strecken sind auch aktuell noch in Betrieb.

Dieser neue Binger Bahnhof hat eine bislang in der Eisenbahnfachwelt kaum diskutierte politische Dimension.

Es wäre ein preußischer Militärbahnhof auf hessischem Territorium entstanden, die Betriebsführung hätte die hessische Ludwigsbahn übernehmen müssen.
Ärger mit den grundbesitzenden Gemeinden und Bürgern wäre vorprogrammiert gewesen, denn die neuen Binger Bahnanlagen hätten viele Hektar wertvoller landwirtschaftlicher Flächen verschlungen, die Frage der Finanzierung wäre sicher zu einem strittigen Punkt geworden, der Bahnhof hätte die Siedlungsentwicklung südlich von Bingen völlig anders aussehen lassen und vieles mehr.
Es wäre ein interessantes Projekt, diesen ganzen Fragestellungen wissenschaftlich nachzugehen.
Vielleicht findet sich ja unter den Lesern dieses Forums ein Interessent.

Der Ausbau bisheriger Lokalbahnhöfe
Assmannshausen-Geisenheim-Langenlonsheim

Diese drei Bahnhöfe, bislang nur regional von Bedeutung, wären als Kreuzungspunkte alter mit neuen Strecken bedeutsam geworden.
An allen drei Stationen wäre es zu einem umfassenden Ausbau der Gleisanlagen gekommen.
Modernste Stellwerkstechnik hielt Einzug.
Auch hier hätte man technische Trupps angesiedelt, etwa Bahnmeistereien.

Gewaltig auch die beschäftigungspolitische Dimension.
Rund um Bingen und Rüdesheim wären hunderte Bahnarbeitsplätze neu entstanden.

Die abgespeckte Variante

In der Zeit ab 1907, als aus dem, zwischen Großbritannien und Frankreich geschlossenen "entente cordiale" die sogenannte "triple entente" mit Rußland wurde, sah sich das Deutsche Reich "umgeben von einer Welt von Feinden" wie es Wilhelm II später ausdrückte.
Die Aufrüstung zu Lande und zur See wurde damit forciert und damit auch der strategisch-militärische Bahnbau.

Der Generalstab setzte dabei auf die Vorbereitung eines neuen Frankreichfeldzuges.
Mit den englischen und russischen Herrscherhäusern war der deutsche Kaiser eng verwandt, man scheute hier einen Krieg, Frankreich hingegen wurde als "Erbfeind" angesehen.
Die Bestrebungen des napoleonischen Frankreich, sich bis an den Rhein auszudehnen (Ernst Moritz Arndt: "Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze") waren nicht vergessen.
Jetzt wurde auch der Bau der drei Rheinbrücken bei Bingen, Remagen und Engers-Urmitz weiter vorangetrieben.

Die Hindenburgbrücke wurde -anders als bei Variante 3 der Giese'schen Planung- näher an den Binger Vorort Kempten herangerückt.
Über zwei Streckenneubauten wurde sie linksrheinisch mit der Strecke Gau-Algesheim - Bad Kreuznach bei Ockenheim und der Strecke Bingerbrück - Bad Kreuznach bei Sarmsheim verbunden.
Erst 1934 wurde dann der direkte Anschluß an die linke Rheinstrecke bei Gaulsheim (Bk Wasserwerk) vollzogen.

Der einstmals so voluminös geplante neue Bahnhof Bingen zwischen Dietersheim und Grolsheim wurde aber nie gebaut.
Man müßte dieser Fragestellung mal wissenschaftlich nachgehen, ich vermute, er wurde nicht gebaut, weil er auf hessischem, nicht preußischen Territorium gelegen hätte und der hessische Großherzog einen Krieg mit Frankreich eigentlich nicht wollte.
Hessen hatte schon 1870/71 dagegen interveniert (wie übrigens auch Ludwig II von Bayern, der sogenannte Märchenkönig).

Hier der Streckenplan aus dem Jahre 1940.

Bild
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