Heute vor 50 Jahren: Zugunglück Dahlerau




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Heute vor 50 Jahren: Zugunglück Dahlerau

Beitragvon Dieselpower » Do 27. Mai 2021, 11:40

Zu einer Diskussion in DSO hatte ich mich wie folgt geäußert, was ich Euch nicht vorenthalten möchte. Da Dahlerau auch hier zum Forengebiet dazu gezählt werden kann, möchte ich auch hier noch einmal an das sicherlich uns allen bekannte traurige Ereignis erinnern, ohne mich in Schuldfragen und Spekulationen zu verheddern. Das Katastrophenjahr für die Bahn 1971 war schlimm genug, als daß man sich mit Theorien und gefährlichem Halbwissen darüber noch das Maul zerreißen muß...

Immer wieder hört man den Tenor "Die Bahn hat nichts zur Erhöhung der Sicherheit getan", was man so absolut nicht stehen lassen kann.

Im Katastrophenjahr 1971 ereigneten sich viele tragische Bahnunglücke in Deutschland, das letzte auch noch am Silvesternachmittag - und zwar im Westerwald bei Hachenburg. Und es war ähnlich gelagert, wie Dahlerau, bloß fuhren hier zwei Uerdinger zusammen, was aber nicht weniger dramatisch war, da laut Augenzeugenberichten die dünnen Beblechungen der Schienenbusse unter den Fahrgästen wie Messer ein Blutbad angerichtet haben müssen.
Auch hier war eine Verspätung und eine verlegte Zugkreuzung unfallkausal, es kam jedoch noch die örtliche Besonderheit einer "zeitweisen Besetzung" einer Zugmeldestelle ohne ASig hinzu.
Der bergwärts fahrende Lokführer soll nichts von der Besetzung des sonst durchgeschalteten Bahnhofs (Heute Hp) Unnau-Korb bemerkt haben - was ihm allerdings beim Passieren des "Hp0" zeigenden Form-ESig der Gegenrichtung noch nachträglich hätte auffallen können. Er ging von einer Nichtbesetzung aus, und ließ sich vom Zugführer wie gewohnt seinen Abfahrauftrag geben, da der Fdl nicht zu sehen war. Dieser vereinbarte zu diesem Zeitpunkt jedoch die Verlegung der Kreuzung zu sich, nach Unnau-Korb mit dem Hachenburger Fdl, und nahm den Gegenzug an. Während des Eintrages ins Zugmeldebuch vernahm er dann das uns allen bekannte Röhren des anfahrenden Schienenbus draußen vor der Tür. Er rannte noch nach draußen, und gab Kreissignal, was auch noch von einem Reisenden gesehen wurde. Dieser schenkte dem Gesehenen jedoch keine nennenswerte Bedeutung, schließlich ist man am Silvesternachmittag ja schon gedanklich beim Jahreswechsel mit Freunden und Verwandten, und bestrebt, heim zu kommen...

Der Fdl rannte also zurück zum Schreibtisch, um dem Fdl Hachenburg zu unterrichten, damit dieser den Gegenzug zurück halten könnte, doch dieser hatte bereits talwärts das Ausfahrsignal passiert. Ein Anwesender, der jemanden vom Zug abholen wollte, ahnte wohl schon etwas in dieser Art, sprang in seinen PKW, um vielleicht noch am Bü Schneidmühle im nahen Waldgebiet den Zug aufzuhalten, doch zu spät. In einem durch Felseinschnitt unübersichtlichen (talwärts gesehen) Rechtsbogen stießen die beiden VTs etwa bei km 48,0 nahezu ungebremst zusammen. Die Rettung gestaltete sich aufgrund der topografischen Situation schwierig (Steiler Hang, Wald, unwegsames Gelände). Der Fdl Hachenburg hatte die Hilfskräfte bereits 40 Sekunden vor dem nicht mehr zu verhindernden Unglück verständigt.

Der Spiegel nahm in einem Artikel im Sommer 1975 nach dem Zusammenstoß von Warngau das Katastrophenjahr 1971 u.a. dieses Unglück (und auch Dahlerau) für einen Artikel mit dem wenig schmeichelhaften Titel "Zustände wie bei der Pferdebahn" zum Anlaß, über die sicherheitstechnischen Aspekte der deutschen Nebenbahnen zu berichten. Die Qualität des Berichtes ist übrigens nicht - wie der Titel vermuten lassen möchte - schlecht, wie man es heute erwarten würde, aber irgendwie kommen mir die zwischenzeitlichen Bemühungen der Bahn um mehr Sicherheit auf der Nebenstrecke - insbesondere der eingleisigen - zu kurz. Ob - und was - man auf der auch schon von der Bundesbahn ungeliebten Nebenbahn "mehr" hätte tun können, bietet Raum für weitere Endlosbeiträge... ;-)

Die Bahn hat nämlich tatsächlich reagiert, indem die (im verlinkten älteren DSO-Beitrag erwähnten) Funkgeräte installiert wurden, welche aber nicht mit dem späteren analogen oder gar dem heutigen digitalen Zugfunk vergleichbar waren, aber eben ausreichend, um einen Nothaltauftrag abzusetzen. Komischerweise gab es offenbar nur wenige freie Frequenzen, denn wie mir ein längst pensionierter Hachenburger Fdl berichtete, konnte er bei gutem Wetter darüber mit dem Fdl Dahlerau (knapp 90 km Luftlinie) kommunizieren....also über mangelnde Reichweite konnte man sich nicht beklagen. Allerdings wird im Spiegel auch bemängelt, daß die Bahn diese Geräte zum Zeitpunkt des Westerwälder Unglücks zwar bereits installiert oder zumindest angeschafft, aber noch nicht in Betrieb genommen hätte. Und hier zwängt sich nun (leider noch ein bißchen mehr OT, aber vom Zusammenhang her tragisch und bemerkenswert) tatsächlich der Verdacht auf, daß 4-5 Jahrzehnte später sich bei der "besten Bahn aller Zeiten" von der Behördenbahn nur die schlechten Marotten beibehalten wurden, denn nur 1 km von der Unglücksstelle entfernt verstarb 2012 ein neunjähriger Junge eingeklemmt unter einem von einer Brücke gestürzten Teleskopstapler, der von einem VT der damaligen Vectus Verkehrsgesellschaft gerammt und mitgeschleift wurde. Auch hier trugen (allerdings auch unter Berücksichtigung einer leider nur sehr kurzen Zeitspanne zwischen Absturz und Kollision) Kommunikationsprobleme zum Unglück bei, und das im Zeitalter von Digitalfunk und Handies. Auch hier wurde ein mediales kritisches Echo laut, da erstens GSM-R auf der Strecke zum Unfallzeitpunkt schon installiert war, aber aus seltsamen Gründen seine Inbetriebnahme immer wieder verschoben wurde, und zweitens die Meldewege und -ketten zwischen der Bahn und den "zivilen" Leitstellen in den Focus der Kritik geraten waren. Ob der Zusammenprall nun hätte verhindert werden könne, ist natürlich rein spekulativ, aber eben nicht auszuschließen.

Aber - um noch mal auf die Nachrüstung in den 70ern zu sprechen zu kommen - außer dem (ich nenne es nun einmal so) primitiven, aber funktionierenden Funksystem wurden etliche Strecken mit Streckenblock TF71 nachgerüstet, sowie vereinfachten Lichtsignalen, welche in (damals noch zahlreich vorhandenen) Bahnhöfen ohne ASig aufgestellt wurden, um solche unberechtigten Ausfahrten zu verhindern - oder hat sich noch niemand gefragt, warum es (heute noch) Bahnhöfe mit Form-ESig aber komischen Lichtsignalen mit kleinem Schirm, ohne Zs1 usw. als ASig gibt? Hier im Westerwald waren sie sogar weit verbreitet. Ein so ausgestatteter Bahnhof ist Niederzeuzheim, wo diese "Vereinfachten Nebenbahn-Lichthauptsignale" kürzlich sogar noch einmal erneuert wurden. Der Vorwurf, es sei "nichts geschehen", was nach 1971 hätte geschehen müssen, ist also nicht korrekt. Natürlich gibt es bis heute Lücken im System, aber wir können guten Gewissens sagen: "Wenn nur ein Fahler gemacht wird, kann nichts passieren". Kritisch wird es, wenn mehrere Fehler sich akkumulieren, denn wie man immer wieder (auch in der See- und Luftfahrt) sieht, die tollsten Sicherheitseinrichtungen können nicht jede Kombination aus Fehlern, die erst im Produkt eine Gefahr darstellen, abdecken. Jeder, der etwas anderes behauptet, oder gar das "autonome Fahren" (Ein Trendwort wie das ganze Gedöns mit der "Digitalisierung") als Allheilmittel ansieht, gehört - unter heutigen Aspekten - noch zu den Spinnern. Aber auch Kaiser Wilhelm II. hielt das Auto nur für einen vorübergehenden Trend, und setzte aufs Pferd....
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Re: Heute vor 50 Jahren: Zugunglück Dahlerau

Beitragvon Horst Heinrich » Do 27. Mai 2021, 16:47

Und wenn man dann noch etwas Näheres über die Funktionsweise unserer Gehirne bzw. die entsprechenden, von außen angetragenen Störungen, ich nenne das ganze jetzt mal übergreifend "nicht in der Sache liegende Rahmenbedingungen" weiß, weiß man, daß es sich mit vielem verhält, wie es der große Hans Bürger-Prinz übrigens auch 1971 umrissen hat: "Es ist die die Problematik aller Feststellungen im Meer des sich ewig Wandelnden, immer wieder tappen wir in die großen Unberechenbarkeiten und Unerklärlichkeiten mit allen unerwünschten und unerwarteten Folgen. Das alles rechnet unter die große Nummer 'Schicksal' ."
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