Mein Artikel zum Zugunglück an Silvester 71




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Mein Artikel zum Zugunglück an Silvester 71

Beitragvon Dieselpower » So 2. Jan 2022, 12:28

Liebe Gemeinde,
als Urheber darf ich Euch hier das Originalmanuskript zu meinem Zeitungsartikel in der Silvesterausgabe der Westerwälder Zeitung zur Verfügung stellen - zwar ohne die Bilder der verunglückten Züge, dafür im Original. Immerhin hat es zum "Aufmacher" des Lokalteils gereicht, es war eine ganze Themenseite... Bei der Gelegenheit noch einmal frohes neues Jahr an alle, die ich noch nicht gegrüßt habe.


Silvesterfahrt ohne Ankunft

Vor einigen Monaten kam ein Kollege zu mir, und zeigte mir eine Fahrkarte, die ihm ein Reisender soeben unter die Nase gehalten hatte. Es war nicht irgendeine Fahrkarte, sie war vom Silvestertag 1971, und galt für eine Person, die bei der Bahn beschäftigt ist (Personalfahrkarte) auf der Strecke von Erbach nach Hachenburg. Abgestempelt im Zug mit der Nummer 3972. Sofort lief mir ein Schauer den Rücken herunter, in meinem Zug saß ein Zeitzeuge, und vor meinen Augen lag eine Fahrkarte, die vom Zugführer kurz vor seinem fatalen Fehler kontrolliert worden war. Doch was war eigentlich an jenem Silvestertag, der sich nun zum 50. mal jährt?
Ich bin ebenfalls Jahrgang 1971, seit 1997 bei der Bahn, legte 1999 die Lokführerprüfung ab, und bin nun seit 2005 im Westerwald tätig, und so ist es mir ein Bedürfnis, an den Tag zu erinnern, der schon durch das Datum wie ein fürchterlicher Schlußakkord eines schrecklichen Musikstücks über eine Katastrophenära wirkt.

Die Jahre 1970 und besonders 1971 waren für die Deutsche Bundesbahn geprägt von Unglücken, die das Vertrauen in das so sichere Verkehrsmittel an sich und an die damals als Ikone der fortschrittlichsten und bestentwickelten Bahnen weltweit geltende Deutsche Bundesbahn erschütterte. Die Bundesbahn, ihre Technologien, Ingenieure und Sachverständigen galten damals als weltweite Autorität.

Die Chronik belegt unzählige kleinere und größere Katastrophen, nicht selten jenseits einer Kreisgrenze unbemerkt, weil noch einmal „glimpflich“ abgelaufen, teils wie ein Paukenschlag, weil prominente Züge betroffen waren, wie der TEE „Bavaria“ in Aitrang im Allgäu, oder die nagelneue Schnellfahrlok der Baureihe 103 in Rheinweiler – beide Züge entgleisten mit fürchterlichen Folgen in Gleisbögen infolge technischer Defekte, und zu hohem Tempo - ein eigentlich unvorstellbares Ereignis, daß man eher in den Anfangszeiten der Eisenbahn verorten würde, doch wie man in Spanien noch 2013 sah, auch heute unter dem Zusammentreffen mehrerer Probleme keineswegs ausgeschlossen. Andere Katastrophen mit weniger mondänen Zügen fielen durch hohe Opferzahlen oder tragische Hergänge auf, wie z.B. Warngau, wo zwei schwere Eilzüge frontal ineinander fuhren, oder auch Dahlerau im Bergischen Land, wo ein Güterzug an einem Bahnhof durchgefahren war, wo er eigentlich auf einen Sonderzug mit Schulkindern hätte warten müssen, an diesen Unfall wurde sogar in Sonder-Fernsehsendungen gedacht. Leider weist er Parallelen zu dem hiesigen Silvesterunglück auf, was die Frage aufwirft, ob man in den 7 Monaten dazwischen untätig gewesen war.

Beleuchten wir kurz den Hergang. In Altenkirchen fuhr an jenem Silvesternachmittag ein Schienenbus in Richtung Limburg los, während sich zeitgleich aus Richtung Westerburg ein bauartähnliches Fahrzeug in Gegenrichtung näherte, was bis dahin noch kein Problem darstellt, so gibt es doch auf der eingleisigen Strecke Bahnhöfe mit Ausweichgleisen. Den Verkehr regeln Signale, solche, die die Einfahrt in einen Bahnhof zulassen oder verbieten, sowie solche, die für das Verlassen des Bahnhofes gelten. Größere, längere Bahnhöfe haben sogar sog. „Zwischensignale“, und eine längere Strecke zwischen zwei Bahnhöfen ist mit Blocksignalen unterteilt, die ein gegenseitiges Auffahren verhindern sollen. Nun näherten sich die beiden Züge einander, so daß man entscheiden mußte, ob der eine in Hachenburg wartet, oder der andere in Unnau-Korb. War Hachenburg schon damals voll ausgerüstet, so hatte Unnau noch aus alten Zeiten die „Sparausstattung“, wo die Einfahrt durch Signale geregelt ist, und die Ausfahrt vom Fahrdienstleiter per Signalkelle genehmigt wird, die zu diesem Zeitpunkt – ähnlich der Kellen von Polizei oder Feuerwehr - eine rote oder grüne Seite aufwiesen. Das Zeigen oder Sehen der „falschen“ Seite wurde in Dahlerau zum Verhängnis, das konnte nie genau geklärt werden, auch weil einer der Angeklagten durch einen Autounfall tödlich verunglückt war. Inzwischen haben die heute noch als „Befehlsstab“ bezeichneten Kellen zwei grüne Seiten, und dürfen nicht mehr zum Geben von Haltaufträgen Verwendung finden.

Beim Ereignis hier im Westerwald jedoch war das Problem, daß der Bf Unnau zu jenem Zeitpunkt nicht rund um die Uhr besetzt war, und der Zugführer selbst den Abfahrauftrag erteilt, wenn kein Fahrdienstleiter (Fdl) zugegen ist, ein üblicher, auch heute noch im Regelwerk zu findender Vorgang, der wegen der inzwischen äußerst seltenen (siehe weiter unten) Bahnhöfe ohne Ausfahrsignal heute jedoch kaum noch Anwendung findet.
Am Silvesternachmittag nahm der Zugführer des bergwärts fahrenden Zuges fälschlicherweise an, der Bahnhof Unnau-Korb sei wieder „unbesetzt“, und setzte zügig seine leicht verspätete Fahrt fort, doch der Fdl war keineswegs abwesend, er klärte gerade im Dienstraum des Bahnhofes mit dem benachbarten Fdl in Hachenburg ab, daß die „Kreuzung“, also das gegenseitige Abwarten der beiden Züge, bei ihm in Unnau stattfinden sollte. Als er den anfahrenden Zug akustisch vernahm, eilte er nach draußen, und gab noch Handsignale als Nothaltauftrag, Funkgeräte gab es zu jener Zeit auf dieser Nebenbahn noch nicht. Es kursieren Meldungen, daß primitive, aber durchaus effektive Einkanalgeräte (Sprechen ODER Hören, gleichzeitig ging nicht, ähnlich dem CB-Funk) bereits angeschafft, aber noch nicht eingerichtet waren. Die Handzeichen waren wohl auch noch von einem Reisenden hinten im Schienenbus wahrgenommen, aber nicht für wichtig erachtet worden. Nun eilte der Fdl wieder hinein, um per Fernsprecher den Fdl Hachenburg anzuweisen, den talwärts fahrenden Zug aufzuhalten, doch zu spät, er war bereits abgefahren, und am „Fahrt“ zeigenden Ausfahrsignal vorbei. Nun war das Ereignis vorprogrammiert. Ein Mann am Bahnsteig, der noch jemanden abholen wollte, erkannte die Dramatik, sprang ins Auto, um am Bahnübergang im Wald zur Schneidmühle noch einen letzten Aufhalteversuch zu unternehmen, doch auch dort war er schon vorbei. Den Alarm löste der Fdl Hachenburg bereits aus, als der Zusammenstoß noch gar nicht erfolgt, aber nicht mehr zu verhindern war.

Beide Lokführer hatten keine Chance - jeder Zug fuhr mit ca 60 km/h, und sie begegneten sich in einem unübersichtlichen Gleisbogen im Einschnitt bei km 48,0, ironischerweise genau da, wo heute der Mast des ultramodernen digitalen Zugfunks steht. Nahezu ungebremst verkeilten sich die Leichtbau-Wagen ineinander. Das unwegsame Gelände im damals dort noch dichten Wald erschwerte den Hilfskräften die ohnehin schon dramatische Arbeit. Es wurden eigens provisorische Rettungswege angelegt. Die traurige Bilanz: 7 Menschen verloren sofort ihr Leben, 34 wurden teils schwer verletzt, ein weiteres Opfer verstarb im Krankenhaus.
Tragisch dabei: Wäre der bergwärts fahrende Zug nur 30 Sekunden später in Unnau, oder der talwärts fahrende Zug entsprechend früher in Hachenburg abgefahren, hätten beide Lokführer sich auf dem einzigen langen, geraden Abschnitt frühzeitig erkennen können, um die Züge noch abzubremsen, und so den Zusammenstoß zu mildern, wenn nicht sogar verhindern….

Sehr viel später (1975) titelte „Der Spiegel“ in einem wenig fundierten, aber dafür umso reißerischeren Artikel „Zustände wie bei der Pferdebahn“, beleuchtete dabei auch dieses Unglück, und bemängelte das Sicherheitskonzept jener Zeit, und daß „bis dato keine Konsequenzen gezogen seien“, und das war schlicht gelogen. Kurz nach dem Unglück wurde das einfache Funksystem installiert (was für die über 40 versehrten Reisenden natürlich zu spät kam), und in einer gewaltigen Aktion wurden auf nahezu sämtlichen Nebenbahnen der BRD die Ausfahrsignale nachgerüstet. Um dies möglichst schnell zu erreichen, hatte man sogar eine besonders einfache, aber dennoch sichere Signaltechnik entwickelt, und zwar mit kleinen einfachen Lichtsignalen mit eingeschränkter Funktionalität (z.B. ohne sonst übliches Rangiersignal u.ä.), die schnell zu installieren waren, sie waren nach dem Unfall auf vielen Westerwälder Stationen zu finden, und sind es z.T. heute noch, z.B. in Niederzeuzheim. Ferner wurde – wo noch nicht vorhanden – auch die induktive Zugbeeinflussung eingebaut, welche das Passieren eines Haltsignals oder die ausbleibende Reaktion auf ein Warnsignal mit Zwangsbremsung bestraft. Verschwiegen wurde auch in dem Artikel, daß Jahrzehnte lang auf tausenden km Nebenbahn bei eingehaltenen Regeln das alte Verfahren ja auch sicher funktioniert hatte, was natürlich den Opfern und Angehörigen ebenfalls freilich ein schwacher Trost war.

Heute ist die Strecke – wie die meisten bundesdeutschen Strecken - mit einem modernen digitalen Funksystem ausgerüstet, in Unnau kreuzen schon lange keine Züge mehr, weil die Gleise bis auf das Streckengleis herausgerissen wurden, und ein Streckenblocksystem ist ebenfalls zur Verhinderung einer Wiederholung dieses oder eines ähnlichen Ereignisses installiert.

Da der Unfall jedoch auch in unserer Region bei vielen nicht bekannt ist, war es mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle daran zu erinnern.

Höchstenbach im Dezember 2021
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von Anzeige » So 2. Jan 2022, 12:28

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Re: Mein Artikel zum Zugunglück an Silvester 71

Beitragvon Rolf » Mo 3. Jan 2022, 07:22

Vielen Dank für den interessanten Artikel!
Rolf
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Re: Mein Artikel zum Zugunglück an Silvester 71

Beitragvon Knipser1 » Mo 3. Jan 2022, 08:28

Sehr gut geschrieben - und eine wichtige Erinnerung.

Ich hoffe, die Reaktionen auf den Artikel sind positiv.


Viele Grüße

Guido
Knipser1
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Re: Mein Artikel zum Zugunglück an Silvester 71

Beitragvon Horst Heinrich » Mo 3. Jan 2022, 10:50

Spannend und informativ bis zur letzten Zeile, danke Marko. Schade daß man die Bilder nicht sehen kann.
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